Mut zur Ideologie

„Ideologie“ scheint mittlerweile zum Schimpfwort mutiert zu sein. Mein Wahrig Deutsches Wörterbuch, 8. Auflage von 2010 kennt noch die beiden Bedeutungen: 1. Gesamtheit der Anschauungen und des Denkens einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht 2. politische Theorie, politische Anschauung. Der Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 7. Auflage von 2011 kennt außerdem noch die Bedeutung weltfremde Theorie.

Die letzte Bedeutung erklärt wohl, warum es ein Lager der Piratenpartei gibt, das meint, ohne Ideologie auszukommen. Und warum es Menschen gibt, die mich auf Twitter beleidigen, weil mich die Tatsache, dass ich Feminismus gut finde, als Ideologen ausweise und Ideologen schlechte Wissenschaftler seien. (Klar, was mit -ismus aufhört muss weltfremde Theorie und damit unwissenschaftlich sein, wie Magnetismus oder Anglizismus.)

Dabei sind Ideologien für die politische Meinungsbildung unverzichtbar. Da hilft der Verweis auf ein Grundsatzprogramm oder ein Wahlprogramm wenig, denn in Bund und Ländern sind die Abgeordneten nicht dem Programm ihrer Partei verpflichtet, sondern ausschließlich ihrem persönlichen Gewissen. Inoffiziell gibt es dann noch Fraktionszwang und ähnliche Befindlichkeiten, denen die Abgeordneten ihr Wahlverhalten unterordnen.

Wenn eine Partei dem Grundgesetz entsprechend an der politischen Willensbildung mitwirken will, tut sie gut daran, die Wählerinnen und Wähler wissen zu lassen, wofür sie steht, an welchen politischen Theorien und Anschauungen sich ihre Abgeordneten orientieren werden.

Welches Menschenbild haben sie und wie sehen sie die Beziehung der Menschen zum Staat? In welche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens soll und darf sich Politik und Staat einmischen und welche Mittel sind dafür legitim? Was kann die Mehrheit demokratisch entscheiden und welche Mehrheiten sind dazu notwendig? Welchen Stellenwert hat dabei der Schutz von Minderheiten? Sollte sich politisches Handeln auf Gesetzgebung beschränken oder umfasst es die gesamte Gesellschaft?

Diese und einige andere Fragen machen in meinen Augen eine Ideologie aus. Die Piratinnen Niedersachsen haben nach der verlorenen Wahl gefragt, was sie für Nichtpiratenwählerinnen unwählbar macht. Für mich macht es keinen Sinn, eine Partei zu wählen, bei der ich weiß, dass sie alle möglichen Ideologien unter einem Dach vereinen. Ich erwarte zumindest so viel Homogenität, dass ich das Wahlverhalten der Abgeordneten bevor ich sie in den Bundestag wähle einschätzen kann.

Dieses Problem gibt es natürlich in Teilen auch in den etablierten Parteien. Die großen Volksparteien versuchen, die Mehrheit zu erreichen, indem ihre diversen Flügel recht unterschiedliche politische Theorien vertreten. Die Grünen vereinen ohnehin gleich mehrere Bewegungen. Vielleicht führt das ein Stück weit zur Politikverdrossenheit., aber eine weitere Partei, in der (fast) alle mitmachen dürfen ohne sich festlegen zu müssen, ob sie eher sozialdemokratisch oder konservativ oder ökologisch oder sozialistisch sind, ist keine brauchbare Alternative.

Wenn ihr also von mir gewählt werden wollt, dann macht gefälligst klar, nach welchen Grundsätzen ihr Politik zu betreiben gedenkt. Das nenne ich eine Ideologie. Wenn euch das Wort nicht gefällt, nehmt ein anderes. Aber irgend sowas braucht ihr.

Soweit erstmal, am Wochenende gehe ich ins Kneipenlog, und sehe mal, was die anderen so dazu meinen.

11 Gedanken zu „Mut zur Ideologie“

  1. Ich glaube was die Leute kritisieren wollen ist nicht „Ideologie“ sondern eine dogmatische Auslegung dieser. Etwas das vielleicht bei der Bezeichnung „Ideologe“/“Ideologin“ noch stärker mitschwingt.

    1. Ja, tatsächlich hat aber der Vorwurf von Dogmatismus dasselbe Problem, wie die beleidigende Verwendung des Ideologiebegriffs: Sie verhärtet die Fronten. Anstatt sich mit den unterschiedlichen politischen Ansätzen auseinanderzusetzen und nachzuhaken, ob vielleicht ein anderes Menschenbild oder Politikverständnis zugrunde liegt, wird der Gegner als böse, weil dogmatisch/ideologisch markiert und die eigene Ansicht für ideologiefrei, also auf reine Logik basierend dargestellt.

      1. Völlig einverstanden. Das Problem ist wenn man jemandem Dogmatismus vorwirft ist das ein expliziter Vorwurf, den man „überprüfen“ kann um sich eine Meinung zu bilden. „Ideologie“ als Beleidigung transportiert genau diesen Vorwurf versteckt ihn aber hinter etwas, dass viele haben, ohne dass es ein Problem oder schlecht wäre. Es ist als ob „die bauen Autobahnen“ implizit den Vorwurf „die sind Nazis“ beinhalten würde. Was gesagt wird, deckt sich nicht mit dem gemeinten und kann darum nur widerlegt werden indem man es dekonstruiert.

  2. „Dabei sind Ideologien für die politische Meinungsbildung unverzichtbar.“

    Mein Vorschlag wäre folgender: Eine Theorie oder eine Vision von etwas, die sich auf irgendeine Weise gegen Kritik immunisiert, ist eine Ideologie – was ganz unabhängig vom Inhalt dieser Theorie ist. Ein Dogmatiker ist eine Person, die eine Ideologie (nicht eine Theorie) konsequent anwendet, ohne nach dem Sinn oder Unsinn des Ergebnisses zu fragen.

    Etwas als „ideologiefrei“ zu bezeichnen, hat dann auch erfreulicherweise weder mit Logik, noch mit irgendeiner reinen Logik zu tun (denn Logik ist die Lehre vom deduktiv korrekten Schließen), sondern meint, daß eine Theorie so ausgelegt ist, daß sie in allen ihren Bestandteilen einer – wie immer gearteten – Prüfung unterworfen werden kann.

    Das Motiv für meine Definition ist, daß „Ideologie“ immer etwas Pejoratives hat. Eine Vision von etwas, die z.B. für eine politische Bewegung benötigt wird, hat per se nichts Negatives an sich.

    1. Naja, Elmar, zwei Punkte:

      1) Ideologie ist nun einmal ein mehrdeutiger Begriff. Ich habe in diesem Beitrag erläutert welche Bedeutung ich verwende und geschrieben, warum ich so etwas von politischen Parteien sehen möchte. Du schlägst eine andere Bedeutung vor. Kannst du machen, aber dann reden wir aneinander vorbei. Gegen Immunisierungsstrategien habe ich nämlich auch etwas.

      2) Ich finde, wir brauchen nicht mehr pejorative Wörter. Da haben wir genug von. Deshalb mein drittletzer Satz: Nehmt meinetwegen ein anderes Wort „politische Theorie“, „politische Anschauung“, „Weltbild“ oder was auch immer.

      Wenn du bei politischen Gegnern Immunisierung siehst oder Dogmatismus, dann ist es doch am einfachsten, einfach den Finger in die Wunde zu legen und etwas zu sagen wie: „Da schimmert bei euch folgendes Weltbild durch und das halte ich für falsch, weil…“ Dann kommt eine Diskussion zustande. Sich gegenseitig Dogmatismus vorzuwerfen, wie es Einstein-Kritiker und PhysikerInnen wechselseitig tun, trägt selten zur Lösung bei.

      1. Nach meiner Ansicht kann man politischen Gegener nur selten eine Immunisierung und damit eine ideologische Vorgehensweise oder Dogmatismus vorwerfen. Politische Fehler sind viel häufiger. Eine Immunisierung sollte nach meiner Einschätzung auch was Systematisches haben wie etwa den Ausschluß eines bestimmten Personenkreises (z.B. Ungläubige, die den Islam kritisieren) vom Äußern von Kritik oder die Erfüllung sonstiger Vorbedingungen.

        Daß wir „Ideologie“ mit verschiedener Bedeutung verwenden, sehe ich. Aber ich vermute, da niemand so frei ist, einen einmal etablierten Ausdruck einfach per Willensentschluß in einer neuen Bedeutung zu verwenden. Und wenn das stimmt, dann werden dich viele Leute mißverstehen. Aber das kannst du ja einfach mal ausprobieren und deine Erfahrungen hier schildern.

  3. Man sollte sich eben bewußt sein, dass eine Ideologie einem eine sehr einseitige Sicht beschert. Egal wie gut und richtig man seine Ideologie findet. Ein Ideologe, der nicht mehr hinterfragt, ist nämlich in der Tat ein schlechter Wissenschaftler.

    Ich finde es daher wichtig, diese auch bei sich selbst immer mal wieder zu hinterfragen, ein Grund, warum ich Butler, Fausto Sterling und Voss gelesen habe.

    Würde ich dir auch empfehlen was Feminismus angeht.

  4. eine Ideologie, die es geschickt schafft, nicht als solche wahrgenommen zu werden, hat es hingekommen, dass alle Alternativen als Ideologien verschrien sind: der Kapitalismus.
    wenn die Piraten das verstehen, können die sich um ihre eigene Ideologie kümmern

  5. Wie kommst du darauf, dass die pejorative Bedeutung von “Ideologie” neu ist? Mir ist sie seit meiner Kindheit vertraut, also spätestens seit Ender der 70er. Vergiss das Wahrig-Wörterbuch von 2010, recherchiere (google) lieber Texten, die den Begriff enthalten; ich bin mir sicher, dass du reichliche Belege für die abwertende Konnotation finden wirst, und nicht erst seit heute.

    Meines Erachtens macht es auch keinen Sinn, die Wortbedeutung in einem Wöterbuch nachzuschlagen, wo Bedeutungserklärungen eher eine Beigabe (und manchmal zur Identifikation notwendig) sind. Ein Lexikon wäre da schon besser.

    Um eine negative Konnotation zu vermeiden, wäre es wohl sinnvoll, ein anderes Wort zu verwenden. Nimm doch die Vorschläge aus dem Wahrig: „Politische Theorie“ oder „politische Anschauung“, die wären jedenfalls weniger missverständlich.

    Klar, was mit -ismus aufhört muss weltfremde Theorie und damit unwissenschaftlich sein, wie Magnetismus oder Anglizismus.

    Muss nicht. Aber es gibt gute Gründe, den Gleichheitsfeminismus als „weltfremd“ zu bezeichnen. Und deshalb verwenden deine Kritiker auf Twitter vermutlich auch den Begriff Ideologie.

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