Konstruktivismus ist auch für Physiker interessant

Konstruktivismus, ist das nicht der Standpunkt, nach dem alle Naturgesetze nur Konstrukte sind? Menschgemachte und damit austauschbare Gedankengebilde, denen keine Entsprechung in der Realität gegenübersteht? Genau. Und diesen Standpunkt finde ich gar nicht so verkehrt.

Mir ist wieder ein altes Buch mit dem Titel Einführung in den Konstruktivismus in die Hände gefallen. Im ersten Abschnitt erklärt Ernst von Glasersfeld die Konstruktion der Wirklichkeit, wie sie sich dem radikalen Konstruktivisten darstellt und bleibt damit erstaunlich fest auf dem Boden der Tatsachen. Der Konstruktivismus ist nicht so abgefahren, wie viele Naturwissenschaftler glauben.

Von Glasersfeld verwendet im Wesentlichen zwei Bilder zur Verdeutlichung seines erkenntnistheoretischen Standpunktes. Der erste ist die Evolution. Ich habe schon in einem früheren Beitrag darauf hingewiesen, dass Evolution keineswegs zielgerichtet die bestmöglichen Lebewesen erzeugt. Evolution funktioniert durch negative Selektion. Was nicht passt, wird ausgemerzt.

Ebenso funktioniert nach von Glasersfeld die Erlangung von Erkenntnis. Theorien werden ohne Bezug auf eine äußere Wirklichkeit konstruiert und müssen sich dann an Wahrnehmungen und in der Wissenschaft an Experimenten bewähren. Theorien, deren Aussagen mit der Wahrnehmung kollidieren, die also nicht passen, werden ausgemerzt und durch bessere Theorien ersetzt. Aber über die verbliebenen Theorien wissen wir nicht mehr, als dass sie sich bisher stets bewährt haben. Nichts garantiert, dass irgendeine Theorie etwas mit Wirklichkeit zu tun hat. Ja, nicht einmal die Existenz von Wirklichkeit ist garantiert.

Das zweite Beispiel von Glasersfelds ist eine Art modifiziertes Höhlengleichnis. Er beschreibt einen blinden Läufer im Wald. Dieser kann sich nur auf seinen Tastsinn verlassen und wird Steine und Bäume nur als Hindernisse wahrnehmen. Sein Bild vom Wald bleibt stets unvollständig, dennoch wird seine Theorie vom Wald mit jedem Durchgang konkreter. Er wird den Weg immer besser finden. Er kann aber auch ganz unterschiedliche Wege finden und es gibt Realitäten des Waldes, die ihm immer verschlossen bleiben.

So ist Wissenschaft. Unsere Experimente geben uns gewisse Hinweise von der Welt da draußen, sie geben uns aber nie Gewissheit, dass unsere Naturgesetze die Wirklichkeit abbilden. Unsere Theorien versuchen aber den Wald zu beschreiben. Fast alle unsere Theorien beschreiben viel mehr als nur Messergebnisse. Einer meiner Theorieprofessoren sagte mal, mit Messergebnissen könne man Telefonbücher vollschreiben, dafür würde sich niemand interessieren. Was interessiert sind Theorien.

Theorien enthalten aber auch verbindende Elemente wie Felder und Wellenfunktionen, die man nicht direkt messen oder wahrnehmen kann. Damit enthalten sie neben Physik auch eine gute Portion dazugedachtes, Metaphysik wenn man so will.

Es macht also Sinn, die Theorien der Physik als Konstrukte zu bezeichnen. Aber die Formulierung nur Konstrukte aus dem einleitenden Satz stimmt nicht. Konstrukte ist alles, was wir kriegen können. Die Wirklichkeit, falls es sie gibt, bekommen wir nicht zu fassen. Wir können natürlich annehmen, dass es sie gibt. Sehr erfolgreiche Physiker waren fest davon überzeugt, dass es eine Wirklichkeit gibt, die mathematisch erfassbar ist und der wir uns durch unsere Theorien annähern. Aber beweisen werden wir es nie können. Die Wirklichkeit bleibt Metaphysik. Physik ist die Lehre von den Wahrnehmungen.

Anmerkung

Dies ist die eine Hälfte eines Doppelblogs. Über das selbe Thema habe ich zugleich einen zweiten Text auf Scilogs verfasst.

22 Gedanken zu „Konstruktivismus ist auch für Physiker interessant“

  1. Als Geisteswissenschaftler habe ich gegen Konstruktivismus nichts einzuwenden. D’accord, dass die Wissenschaft „Physik“ nur Theorien über das Verhalten der Welt („Physik“) konstruiert, die sich dann an Messungen bewähren oder auch nicht.
    Aber die Verwendung des Begriffs Metaphysik finde ich noch verbesserungswürdig. Ich schlage vor, unser sinnlich erfasstes, gemessenes und alltägliches Erleben „Wirklichkeit“ zu nennen. Die Wirklichkeit ist chaotisch. Im Unterschied dazu könnte das nicht sinnlich erfassbare Geschehen im Hintergrund, das wir uns als naturgesetzlich und regelmäßig vorstellen, „Realität“ heißen.
    Das Bemühen um die Konstruktion von Naturgesetzen (Gesetzen der Realität) wäre dann aber immer noch Physik. (Man sollte diesen Teil nicht aus der Wissenschaft der Physik auslagern, sonst kommt man bald an den Punkt, an dem es in der Physik gar nicht mehr um Naturgesetze, Erklärungen und Kausalbeziehungen geht, sondern nur noch um Messergebnisse.)

    Was ich jetzt gemacht habe – das Verhältnis zwischen Realität und Wirklichkeit beschreiben – das ist dann die Metaphysik.
    You do the math, let me do the metaphysics, sagte der Philosoph zum Physiker. 😉

  2. Konstruktivistische Theorien außerhalb von Sozial- und Kulturwissenschaften finde ich gut, spannend und nötig. Der Glaube an die Neutralität von Wissenschaft ist zwar noch sehr wirkmächtig, bröckelt aber zunehmend. Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass Forschung (und ihre Publikation) nicht in einem Elfenbeinturm stattfindet, sondern gekoppelt ist an die jeweilige Zeitgeschichte, an Politik, Finanzen, Ressourcen, verfügbare Techniken, Neuentwicklungen etc.
    Wissenschaft ist kein Phänomen sui generis, sondern eingebunden in diskursive Felder, in denen Wahrheiten innerhalb von Denksystemen gebildet werden sie und kann -nach Foucault- „entsprechend geschichtlichen Formation des Diskurses, eigene Werte oder Wahrheiten etablieren“. Oder eben auch nicht – abhängig von vorherrschenden Macht- und Wissenskonstellationen.

    Ja, ich bin ein Fan konstruktivistischer Theorien und diskursanalytischer Analysen. Ich finde es wunderbar, durch sie neue Erkenntnisse und Kontexte zu erschließen – und auch Wissenslücken erklären zu können. Ich finde es praktikabel, durch sie auf die Dynamik des Forschungsfeldes und/oder neue Erkenntnisse reagieren zu können. Ich finde es nicht abschreckend oder in irgendeiner Form nihilistisch (auch was Naturwissenschaften angeht, die nicht mein Ressort fallen), dass die von uns aufgestellten Gesetze von unserer „Realität“ abhängen, von unserem Erkenntnisbereich, der eben durch unser Menschsein begrenzt ist, von den Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen, sondern, ja, logisch und konsequent. Der Abschied von einem absoluten Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Erkenntnis ist für mich Motor für weitere Forschungen, neuen Ideen und Methoden, unsere Welt immer schärfer und detailreicher zu zeichnen.

    Super, an dieser Stelle, und in Deinen beiden Blogs, über Konstruktivismus in der Naturwissenschaft zu lesen. Vielen Dank! Ich hoffe, es kommt bald die Fortsetzung „Was ist Realität?“…

  3. . Ja, nicht einmal die Existenz von Wirklichkeit ist garantiert.

    Es ist aber garantiert, dass es etwas gibt, dass uns Wahrnehmungen liefert. Und dieses Etwas nennt man nun einmal Realität.

      1. Sieht man von Träumen (und wir überprüfen ja keine Theorie anhand unserer Taumerfahrung) o.ä. ab, beruhen doch aber auch Täuschungen auf Wahrnehmungen.

        Unter Täuschungen versteht man doch eigentlich ‚vom Wahrnehmungssystem fehlinterpretierte Wahrnehmungen‘ … siehe das lose Kabel bei Opera, welches zu einer Fehlinterpretation der Neutrinolaufzeiten führte.

        1. Ich bin da ja eigentlich ganz bei dir. Wie ich im Parallelartikel schreibe, bin ich selbst im Alltag Realist, halte also die Annahme einer äußeren Realität für sehr plausibel.

          Nur kann man das letztlich nicht beweisen. Die Idee des Skeptizismus ist ja uralt. Schon Berkeley wusste, dass wir letztlich nicht ausschließen können, dass alle unsere Wahrnehmungen eine Täuschung sein könnten. Natürlich könnte man dann wieder einwenden, dass das was die Täuschung hervorruft wirklich sein muss. Aber die Konstrukte, die wir von der Wirklichkeit machen, sind dann so verschieden von der äußeren Wirklichkeit, dass eine Gleichsetzung problematisch ist.

          1. Lieber philosophischer Kollege,
            Ich bin ebenfalls der Ansicht, dass das physikalisches Weltbild ein konstruktivistisches ist, es ist ein wachsendes Kentnissystem mit dem Kriterium, vorherzusagen. Aber es ist ein Modell für ein System unendlicher Dimension dahinter, kein Vergleich mit allen menschlichen, ebenfalls konstruktivsten Systemen, ein Fundamentaler Grund ist die fundamentale Verknüpfung mit Mathematik – deshalb gilt es in einer Milliarde Lichtjahre Entfernung und mit einer Präzision von manchmal 15 Stellen hinter dem Komma. Das Erkennen ist menschlich, das Ergebnis ist trotzdem übermenschlich. Wir können nichts dafür.

  4. Da wir keinen direkten Kontakt zur Welt haben, kann unser Gehirn diese nur konstruieren. Durch Informationen unserer Sinne wird unser Weltmodell ständig korrigiert. Dadurch entspricht das Modell trotzdem nicht unbedingt der Realität, ist aber trotzdem nützlich für unser Agieren in der Welt. In der Physik verhält es sich ähnlich. Wenn eine Theorie Vorhersagen macht, die durch Überprüfung (Messungen) bestätigt werden, ist es unerheblich, dass sie nicht exakt der Wirklichkeit entspricht.

  5. „Theorien werden ohne Bezug auf eine äußere Wirklichkeit konstruiert.“

    Aha! So entstehen also Straßenkarten. Jemand malt ein paar Linien aufs Papier und guckt dann draußen nach, ob er vielleicht richtig liegt.

    „Theorien, deren Aussagen mit der Wahrnehmung kollidieren, die also nicht passen, werden ausgemerzt und durch bessere Theorien ersetzt.“

    Oder verändert ersteinmal die Meßgeräte, bzw. interpretiert die Daten anders, oder man ersetzt die Wissenschaftler gegen andere, bis es irgendwann passt – Radikaler Konstruktivismus, nichts ist vorherbestimmt.

    ‚Nichts garantiert, dass irgendeine Theorie etwas mit Wirklichkeit zu tun hat.‘

    So auch die Theorie des radikalen Konstruktivismus der sich damit gleich selbst abschafft.

    1. Nun, eine wissenschaftliche Theorie hat einen höheren Anspruch als eine Straßenkarte. Die Straßenkarte ist einfach eine vereinfachte Skizze von etwas, das Menschen selbst konstruiert haben. Wir wissen schon bevor wie anfangen eine Straßenkarte zu zeichnen mehr über die Straße als wir jemals auf einer Karte unterbringen können.

      Das ist in der Atomtheorie anders. Über Atome wussten die Menschen bis ins 18. Jahrhundert nichts. Heute haben wir ein ziemlich gutes Modell von ihnen. Ob dieses Modell aber der Wirklichkeit nahe kommt, wissen wir nicht.

      1. Richtig, darum betonen sozial Konstruktivisten, die weichen Faktoren als entscheidend:

        „Die Atomtheorie…Sie wurde (im Westen, im Altertum) eingeführt, um gewisse Makrophänomene wie das Phänomen der Bewegung angesichts der parmenideischen Einwände zu retten…Sie wurde dann von der mehr detaillierten Philosophie des Aristoteles wiederlegt, kehrte mit der wissenschaftlichen Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts ins Geistesleben zurück, wurde durch die Entwicklung von Kontinuitätstheorien und ‚phänomenologischen‘ Theorien eingeschränkt und gegen Ende des 19. Jahrhunderts fast eliminiert, kehrte im 20. Jahrhundert nochmals zurück, nur um durch die Komplementarität wieder eingeschränkt zu werden“ P. Feyerabend

        1. Jedoch sind natürlich auch diese Vorerfahrungen ebenfalls nicht objektiv gemacht, sondern eben auch geprägt durch Vorerfahrungen, Interpretationen usw.

          Nach dieser Ansicht, gibt es also etwas (das „(Vorhanden)Sein“), nur können wir es nie so erfassen, sondern nur eine subjektive Wirklichkeit erstellen, welche durch das „Sein“ und deren vorangegangene Interpretationen erzeugt wird.
          Demnach „Gibt“ es auch keine Planeten, keine Gravitation, keine Atome, keine Kräfte, kurz keine (Physikalischen) Gesetzmäßigkeiten. Es sind alles nur Interpretationen vom „Sein“ an sich.
          Anders formuliert:
          Es existiert etwas, und ein Tisch wird wechselwirkt mit uns wie ein Tisch, aber „der Tisch“ als definiertes Objekt (und in Abgrenzung zu einem Stuhl oder der ihn umgebenden Luft), sind interpretierte Bezeich

        2. Anders formuliert:
          Es existiert etwas, und ein Tischwechselwirkt mit uns wie ein Tisch, aber „der Tisch“ als definiertes Objekt (und in Abgrenzung zu einem Stuhl oder der ihn umgebenden Luft), ist eine interpretierte Bezeichnung, welche versucht „das Sein“ kausallogisch und Ortsgebunden zu ordnen, zu beschreiben und zu verstehen.
          Es kann damit aber niemals die Wirklichkeit 1:1 wiedergeben.

    2. Luhmann würde sagen, dass es eine „echte“ Welt gibt, wir diese jedoch nie wahrnehmen oder verstehen werden.
      Diese echte Welt wirkt ständig auf uns ein (Luhmann nennt es Hintergrundrauschen). Manches davon wirkt so gravierend auf uns ein, dass wir es bemerken/wahrnehmen (Luhmann sagt: Beobachten), allerdings nicht objektiv, sondern beeinflusst durch die körperlichen Möglichkeiten der Wahrnehmung (manches Licht, können wir sehen, anderes nicht), und durch Vorerfahrungen, welche uns in der Beobachtung, Interpretation beeinflussen.
      Diese Vorerfahrungen können wir selbst gemacht haben, sie sind aber auch in Form von Reflexen in unseren Genen angelegt und Können über Bücher, Sprache etc. an uns herangetragen sein.

  6. P.S: Mir ist schon bewußt, das ein Arzt der ein Röntgenbild betrachtet, erst mal wissen muss wonach er zu suchen hat. Aber das geht nun mal nicht ohne Bezug auf irgendeine Realität. Ich halte den radikalen Konstruktivismus für fragwürdig.

    Anderes Beispiel:

    ‚Die Wissenschaft überwiegt, weil einige Erfolge in ihrer Vergangenheit zu institutionellen Maßnahmen geführt haben, die eine Rückkehr der Rivalen verhindern. Kurz, aber nicht unrichtig: die Wissenschaft steht heute im Vordergrund, nicht weil sie objektive Vorteile hat, sondern weil es den Wissenschaftlern gelungen ist, ‚es sich einzurichten‘.“
    -Paul Feyerabend – Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität

    Die Stabilität von Theorien hängt demnach nicht von Ergebnissen ab.

      1. Welche wären das konkret? Glaubst Du, die Physik heute wäre eine komplett andere, hätten weniger privilegierte Personengruppen in der Vergangenheit Zugang zu Forschung und Bildung gehabt?

    1. Hallo BasementBoi,
      diese Fragen treiben mich selbst auch sehr um, da ich einerseits ein Fable für Physik habe (viele meiner Freunde studieren Physik), andererseits finde ich die Ideen des Konstruktivismus ebenfalls sehr spannend.
      Ich kenne leider keinen wirklichen Beitrag, welcher mit hohem Anspruch das Thema Naturwissenschaftliche Erkenntnis vs (radikaler) Konstruktivismus behandelt, und gleichzeitig kurz genug ist, um ihn innerhalb von einem Tag durchzulesen. Ich glaube, es ist zudem wichtig, nicht den Konstruktivismus im Gesamten zu argumentieren, sondern einzelne Vertreter davon.
      Ich kenne mich v.a. mit Luhmann aus, weshalb ich versuchen kann, deine Punkte aus seiner Sicht darzulegen, allerdings in einem nächsten Kommentar, da mir das Zeichenlimit ein Strich durch die Rechnung macht.

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