Offensichtliche Zusammenhänge

Wissen Sie, ich bin ja nicht verrückt. Ich bestreite keineswegs, dass es biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt.

Diese Antwort gibt Judith Butler+ auf die Frage, wie ihre These zu verstehen ist, dass die geschlechtliche Identität nicht natürlichen, sondern kulturellen Ursprungs sei. Entnommen habe ich das Zitat aus der Aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Philosophie Magazin, in der ein sehr spannendes, vierseitiges Interview° mit Butler erschienen ist. Ein guter Anreiz für mich, dieses Thema auch mal wieder aufzugreifen.

In seinem letzten Kommentar hatte Elmar Diederich gemutmaßt, ich wolle Ungerechtigkeiten messen. Wenn ich Elmar richtig verstehe, geht er davon aus, dass ich aus statistischen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen auf Ungerechtigkeiten schließe. Dazu müsste ich annehmen, dass es keinen oder nur einen geringen biologischen Unterschied gibt und ich hätte dasselbe Problem wie die Soziobiologen.

Diese veröffentlichen mit großer Regelmäßigkeit Studien, die irgendeinen statistisch signifikanten Unterschied in mathematischer Begabung oder Spielzeugpräferenz oder Empathie oder sonst einer Fähigkeit zwischen Gruppen unterschiedlichen Geschlechts nachweisen. Daraus schließen sie, dass dieser Unterschied angeboren sei. Allerdings muss zwangsweise die Möglichkeit geleugnet werden, dass diese Unterschiede kulturell geprägt, zufällig oder durch den Versuchsaufbau herbeigeführt sein könnten.

Würde ich nun aus denselben Studien umgekehrt auf strukturellen Sexismus schließen, die Unterschiede also als Indiz für kulturelle Ungleichheit nehmen, so müsste ich ebenfalls leugnen, dass der Versuchsaufbau fehlerhaft sein könnte, dass das Ergebnis auf einen Zufall beruhen könnte, oder dass Hormone oder Gene irgendwie beteiligt sein könnten.

Das tue ich aber nicht. Das wäre ziemlich unwissenschaftlich.

Wirkzusammenhänge erschließen sich nur selten direkt aus statistischen Daten. In der Gesellschaft haben wir einen viel direkteren Zugang zu solchen Zusammenhängen, denn Menschen wachsen in der Gesellschaft auf, formen ihre Umwelt und werden von dieser geformt. Zum Teil ganz bewusst, zum Teil implizit.

Butler weist im Interview darauf hin, dass es nicht nur eine einzige Prägung gibt. Geschlechterrollen sind nicht die einzigen Normen, denen wir uns anpassen. Wir alle befinden uns in vielen verschiedenen Beziehungen, in denen wir verschiedene Rollen einnehmen und alle diese Rollen prägen uns. (So wie wir diese Rollen natürlich auch gestalten.)

Die Kategorie Geschlecht zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie in fast jedem gesellschaftlichen Zusammenhang mitschwingt. Das erkennen wir schon in der Sprache: Wir können nicht über eine Person reden, ohne ihr Geschlecht zu kennen, denn die Sprache zwingt uns zu entscheiden, ob wir „er“ oder „sie“ sagen.

Wie ich mich als Junge und später als Mann kleide, wie ich mich verhalte und welche Tätigkeiten und Eigenschaften als männlich, welche als weiblich anzusehen sind, habe ich erlernt. Das lernen wir alle. Wissenschaftlerinnen können das natürlich auch wissenschaftlich untersuchen. Alles was existiert lässt sich auch wissenschaftlich untersuchen. Aber eigentlich braucht es keine tiefe Wissenschaft um erlernte Geschlechterrollen zu erkennen, sie begegnen uns im Alltag auf Schritt und Tritt.*

Haben wir einmal erkannt, dass Geschlechterrollen von uns Menschen geformt und an die nächsten Generationen weitergereicht werden, dann ist es auch offensichtlich, dass sie sich ändern lassen. Und hier setzt meines Erachtens der Feminismus an: Wir sollten den Blick darauf richten, wo Geschlechterrollen Individuen im Weg stehen. Und mindestens dort, wo die Rollen Personen behindern, müssen wir daran arbeiten, diese zu ändern. (Die Rollen, nicht die Personen.)

Die Frauenquote in Führungspositionen ist ein gutes Beispiel. Sie kann zwei Aufgaben erfüllen: Zum einen durchbricht sie die Gläserne Decke und ermöglicht es qualifizierten Frauen aus der mittleren Führungsebene in Positionen zu kommen, die bisher noch von Männern dominiert sind. Zum anderen schafft sie Rollenmodelle für die folgenden Generationen und durchbricht so das Vorurteil, dass sich nur Männer und wenige Ausnahmefrauen für Führungspositionen eignen.

Butler unterstützt die Frauenquote vorsichtig, merkt aber an, dass es größere Probleme gibt als Frauen in Führungspositionen zu bringen. Zum Beispiel, dass Frauen stärker von Armut bedroht sind als Männer. Ich denke, dass die Ziele Armut zu bekämpfen und die Gläserne Decke zu durchbrechen einander eher unterstützen als miteinander zu konkurrieren. Wir können also das eine tun und das andere nicht lassen.

Es geht also, um es noch einmal abschließend zu sagen, in Butlers Werken nicht darum, körperliche Unterschiede zu leugnen, sondern darum aufzuzeigen, wie über Geschlechterrollen eine gesellschaftliche Dualität erzeugt wird, die weit über die eigentlichen körperlichen Unterschiede hinausgeht. Damit lassen sich Wege aufzeigen, Ungerechtigkeiten abzubauen, die sich aus Geschlechterrollen ergeben.

Anmerkungen:

+Judith Butler ist Autorin von Gender Trouble (deutsch „Das Unbehagen der Geschlechter“) und Bodies that Matter („Körper von Gewicht“), Feministin und Professorin für Philosophie an der University of California, Berkeley

°Das Interview beschränkt sich natürlich nicht auf diesen einen Punkt. Ich habe ihn nur herausgegriffen, weil er mich gerade interessiert.

*Das bedeutet nicht, dass ich soziologische Forschung für irrelevant halte. Es ist sinnvoll, Alltagserfahrungen mit wissenschaftlicher Methodik zu überprüfen, denn Erfahrung kann auch täuschen.

14 Gedanken zu „Offensichtliche Zusammenhänge“

  1. Das ist leider die größte Herausforderung, immer wiede,r auch für mich: Sich bewusst zu machen (und zu halten), dass ein nachgewiesener Wirkzusammenhang einen anderen nicht ausschließen muss, und dass entsprechend ein Fokussieren auf bestimmte Mechanismen keineswegs bedeutet, alles andere zu leugnen. Lustigerweise wird ein solcher Absolutismus meinem Eindruck nach häufig dem jeweils gegnerischen Lager unterstellt.

    1. Ja, die Soziobiologen wissen natürlich auch von gesellschaftlichen Einflüssen und bemerken das in der Regel auch in ihren Veröffentlichungen. Da das die Aussagen aber erheblich abschwächt, lassen sie die Einschränkungen in Pressemitteilungen und Interviews dann gerne wieder unter den Tisch fallen. So ist es in dieser Studie geschehen. Abgesehen davon, dass die Evidenz so schwach ist, dass mich die Veröffentlichung wundert, schreiben die Autorinnen im eigentlichen Artikel durchaus, dass ihr Modellsystem problematisch ist. Im Interview klingt es dann aber wieder ganz anders.

  2. Schöne Metaposition zu den angeboren/anerzogen-Streithähnen!

    Zum *-Satz „Aber eigentlich braucht es keine tiefe Wissenschaft um erlernte Geschlechterrollen zu erkennen, sie begegnen uns im Alltag auf Schritt und Tritt.“
    Ich habe den Eindruck, dass sowohl „tiefe Wissenschaft“ als auch „soziologische Forschung“ und „mit wissenschaftlicher Methodik“ in der Anmerkung ein rein quantiatives Wissenschaftsbild vor Augen haben. Darauf möchte ich hinweisen. Denn zuerst muss man ja die Alltagserfahrung von Geschlechterrollen mal qualitativ erfassen, bevor man sie quantifizieren kann – und dann wieder qualifizieren usw. Bin ein Fan von qualitativ-quantitativem Methodenmix (Triangulation).

    1. Im Gegenteil, und darüber sollten wir mal im Kneipenlog weiterdebattieren, bin ich der Ansicht, dass ein rein Quantitatives Wissenschaftsbild nicht funktionieren kann. Die Erziehungswissenschaftliches Arbeit von den Professorinnen Zimmer und Hunger ist qualitativ und auch die großen Theorien der Physik von Newton, Maxwell und wie sie alle heißen, sind zunächst einmal qualitativ, denn sie geben Zusammenhänge an. Die quantitative Fassung in Formeln und Zahlen folgt dann erst.

  3. Hallo,

    ich habe das Interview & das Magazin auch gelesen.
    Spannender fand ich aber den kleinen Artikel im vorderen Teil des Hefts, wo darauf hingewießen wurde, das daß spielen einer Rolle auch gleichzeitig einen positiven Einfluß auf die vielfalt der eigenen Verhaltensmöglichkeiten haben kann.

    Und da möchte ich mal wissen wie es eigentlich aussieht mit der sexuellen Anziehung zwischen den Geschlechtern, die sich natürlich auch aus den unterschiedlichen Rollen ergibt, wenn jene Rollen dann gänzlich abgeschafft sind und man nur noch gefälligst man selbst zu sein hat?

    1. Meinst du den auf Seite 24? „Das Prinzip Mad Men“? Ich habe gar nicht so recht verstanden, worauf diese „philosophische Lockerungsübung“ hinauslaufen sollte. Vielleicht weil ich eh schon eher spielerisch mit Rollenbildern umgehe.

      Die sexuelle Anziehung zwischen Geschlechtern möchte meines Wissens kein Mensch abschaffen. Ich glaube auch nicht, dass die sich aus den Rollen ergibt, eher noch umgekehrt. Aber auch da ist so vieles individuell, dass es sogar ganz spannend sein kann, ein bisschen weniger starr eingefahrenen Rollenbildern zu folgen.

      1. Ja, den meinte ich.
        Das Aschenputtel Motiv ist ja heute noch sehr beliebt in diversen Heftchenromanen und Tv Produktionen.
        Lange Zeit hat also nicht nur das.Geschlecht, sondern vor allem ‚das Andere‘ am Anderen für Anziehungskraft gesorgt und das wiederum wurde noch durch die Stände und Klassengrenzen hin potenziert.
        Heute wird eher der biologische Unterschied hervorgehoben und weniger die Rolle akzentuiert und in diesem Sinne fällt es dann manchen schwer überhaupt noch anhaltende Anziehungskraft auf das andere Geschlecht auszuüben.

        1. Das Aschenputtelmärchen zeigt genau das Gegenteil von dem, was du hier behauptest. Die Grenzen zwischen Arm und Reich waren zur Zeit, in der das Märchen entstand, so undurchdringlich, dass der Prinz das Aschenputtel für eine Prinzessin halten musste, um sich in sie verlieben zu können.

          1. Es geht weniger um den Prinzen als um die vermeitliche Prinzessin. Anderes Beispiel wäre Jane Austens ‚Stolz und Vorurteil‘ dort konnte sich die Protagonistin auch nur verlieben als sie das Schloß des Liebhabers sieht.

            Bei allen widerwärtigkeiten die das Patriarchat produzierte, schien es auch die Anziehung zwischen den Geschlechtern erheblich zu steigern.
            Vielleicht ist das einer der Gründe warum sich FeministenInnen immer noch so obsessiv damit beschäftigen..

  4. Hmm, dein Post geht in die Richtung dessen, was ich inzwischen als Standardantwort gebe, wenn mich jemand fragt: „Du glaubst also nicht, dass es biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt?“ Antwort: Doch, vermutlich gibt’s die, aber
    a) überzeugen mich viele Studien, die ich zu dem Thema gesehen habe, methodisch nicht – ich kann aus ihnen also keine konkreten Schlüsse ableiten,
    b) vermute ich, dass die interindividuellen Unterschiede größer sind als die Unterschiede zwischen diesen beiden – doch sehr grob definierten – Gruppen; für den Fall, dass diese Vermutung richtig ist, sollte man von unserer doch sehr individualistischen Kultur erwarten, das zu berücksichtigen; das heißt aber auch, dass bei einer Argumentation für die Nicht-Berücksichtigung die Bringschuld bei denen liegt, die die Signifikanz der interindividuellen Unterschiede bestreiten (was, glaube ich, genau die Motivation hinter vielen „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“-Studien ist…)
    c) haben wir es beim Thema „Geschlecht“ mit einem komplexen Gefüge aus Kultur, Tradition, Gesellschaft, individuellem Erleben und Biologie zu tun, bei denen sich die einzelnen Faktoren gegenseitig beeinflussen, und ich denke nicht, dass wir kulturell schon an einem Punkt sind, an dem wir das alles sauber auseinanderdröseln können.

  5. Du irrst, wenn du meinst, dass Butler einen biologischen Anteil sieht. Gender bzw. Geschlechterverhalten ist bei ihr rein sozial kostruiert. Geschlechternormen werden nur an körperlichen Unterschieden festgemacht. Es gibt also körperliche Unterschiede, diese beeinflussen aber das Verhalten bei ihr nicht:

    http://de.wikipedia.org/wiki/Judith_Butler

    Eine kritische Genealogie der Geschlechterontologie, die die Veränderbarkeit und die Historizität von Natur und Kultur belegt, wird bei Butler nicht explizit dargestellt. Allerdings beruft sich Butler auf eine kulturelle Matrix der Intelligibilität, die das Geschlecht auf einen Körper zurückführt und ihn der Norm unterwirft. Körper sind für sie hier Gegenstände, die allein mittels Verstand und Vernunft vorgestellt werden können, also Konzepte und Konstrukte, die in der Gesellschaft akzeptiert und dadurch sichtbar und wahrnehmbar werden, wie etwa das heteronormative Modell der binären Geschlechtlichkeit. Diese Vorstellungen werden in einer Matrix des Sozialen gedacht, einem feinen Netz von Diskursen und Machtstrategien, die um einen (diskursiv hervorgebrachten) Gegenstand gespannt werden.[20]

    Am Körper kann also nur die Norm festmachen, insofern wird man durch die soziale Zuordnung des Körpers zu bestimmten Regeln Mann oder Frau.

    Oder weiter:

    In dem 1993 erschienenen Buch Bodies that matter, in Deutschland 1995 unter dem Titel Körper von Gewicht, präzisiert Butler diese Fragen dahingehend, wie es zu einer besonderen Bedeutung eines Körpers, einer Identität oder eines Subjekts kommen könne, die das Andere ausschließe. Ihre Erklärung ist, dass die Unterwerfung unter eine gesellschaftliche Vorstellungsmatrix, die von binärer Körperdifferenz ausgeht, verlangt, dass andere, nicht einzuordnende Formen abgelehnt werden. Das Verworfene sind nicht lebbare Möglichkeiten des sozialen Lebens, die aufgrund ihrer Ausschließung das Subjekt konstituieren. Zurückgewiesene, nicht lebbare Körper werden zur Bedingung derjenigen, „die sich mit der Materialisierung der Norm als Körper qualifizieren, die ins Gewicht fallen“.[21]

    Die Materialisierung der Norm als Körper ist eben genau das, wozu sie in ihrer Theorie körperliche Unterschiede braucht.

    Hier noch mal von Butler selbst:

    „Die Kategorie des ‚sex’ ist von Anfang an normativ; sie ist, was Foucault ein ‚regulierendes Ideal’ genannt hat. In diesem Sinne fungiert das ‚biologische Geschlecht’ demnach nicht nur als Norm, sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren. Das ‚biologische Geschlecht’ ist demnach also ein regulierendes Ideal, dessen Materialisierung erzwungen ist, und zu dieser Materialisierung kommt es (oder kommt es nicht) infolge bestimmter, höchst regulierender Praktiken. Anders gesagt, das ‚biologische Geschlecht’ ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird. Es ist nicht eine schlichte Tatsache oder ein statischer Zustand eines Körpers, sondern ein Prozeß, bei dem regulierende Normen das ‚biologische Geschlecht’ materialisieren und diese Materialisierung durch eine erzwungene ständige Wiederholung jener Normen erzielen. Daß die ständige Wiederholung notwendig ist, zeigt, daß die Materialisierung nie ganz vollendet ist, daß die Körper sich nie völlig den Normen fügen, mit denen ihre Materialisierung erzwungen wird. Es sind sogar die durch den Prozeß hervorgebrachten Instabilitäten, die Möglichkeiten der Re-Materialisierung, die einen Bereich kennzeichnen, in dem die Kraft des regulierenden Gesetzes gegen dieses selbst gewendet werden kann, um Neuartikulationen hervorzutreiben, die die hegemoniale Kraft eben dieses Gesetzes in Frage stellen.”

    (Butler: Körper von Gewicht, S. 21)

    1. In keinem der von dir zitierten Passagen aus der Wikipedia und aus Körper von Gewicht geht es um die Frage, inwieweit körperliche Unterschiede zwischen Menschen Unterschiede in ihrem Verhalten bewirken können. Die Zitate können also gar nicht zeigen, was du im eingehenden Absatz behauptest.

      Es geht in den Texten vielmehr um die Frage, wie es dazu kommt, dass aus den vielzähligen Unterschieden zwischen Menschen ausgerechnet zwei körperliche Geschlechter ausgemacht werden.

  6. Pingback: Quantenmeinung

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